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Wir haben mindestens vier Jahre gewonnen

Die Nachfrage im Baustoffmarkt hat kaum nachgelassen, auch das Jahr 2021 startet stark. Angesichts der Pandemie, so schlimm sie auch ist, bleibt zumindest eines festzuhalten: Die Baustoffindustrie ist bisher gut durch die Krise gekommen. Das wird auch so bleiben. Und nicht nur das.

Gedanken zur aktuellen Markt- und Branchensituation von Alexander Weber, geschäftsführender Gesellschafter bei SCHOMBURG (erschienen im Jahrbuch der Fliesen und Platten 2020-2021).

Ist-Situation

In manchen Segmenten gab es gute Zuwächse. Klar ist aber auch, dass die Gewinner sich eher im Profi- und Premiumbereich bewegen, dort hat die zeitweise Schließung von Baumärkten in einzelnen Ländern das Geschäft wenig beeinträchtigt. Das Handwerk konnte zeigen, dass es verlässlicher Partner in schweren Zeiten ist – und mit der Baustoffindustrie einen verlässlichen Partner hat.
Dennoch muss man hinter die Kulissen blicken. Die beiden Spitzenverbände Hauptverband der Deutschen Bauindustrie (HDB) und Zentralverband Deutsches Baugewerbe (ZDB) projizieren ein Nullwachstum im Baugewerbe für das Jahr 2021. Die Entwicklung für den Baustoff speist sich zu guten Teilen aus dem Wohnungsbau, während öffentliche und gewerbliche Bauvorhaben aktuell auf Pause gestellt sind. Privat genutzte Immobilien erleben einen Trend – auch durch die Pandemie verursacht. Durch die breitere Akzeptanz von Homeoffice werden sich Immobilienmärkte ändern. Lagen außerhalb von Metropolen werden attraktiver, dafür steigt der Platzbedarf für ruhige Heimarbeitsplätze.
Die Baustoffhersteller sind also Profiteure der Krise, aber das beschränkt sich nicht nur auf die nackten Zahlen. Natürlich ist ein stabiles Geschäft die Grundlage allen Handelns. Aber noch wichtiger sind die neuen Wege, die uns die Situation um Corona aufgezeigt hat. Meine These lautet daher, dass wir besonders in den „weichen“ Bereichen Organisation, Vertrieb und Marketing mindestens vier Jahre gewonnen haben. Drei Bereiche sind Learnings, die wir auf jeden Fall auch nach der Krise in der gesamten Branche behalten werden.

These 1: Mit Werten gewinnen wir alle

Diejenigen, die in den Jahren zuvor in faire und transparente Partnerschaften investiert hatten, haben sich nun darauf verlassen können. Auch im Jahr 2021 gilt, dass Lieferketten dann stabil sind, wenn man nicht nur auf den Preis achtet, sondern langfristige Partnerschaften mit seinen Lieferanten eingeht. Loyalität ist ein Schlüsselwert. Auch Kundenloyalität hat sich ausgezahlt. Wer lange Jahre zusammenarbeitet, der kann Verhandlungen auch per E-Mail oder Teams führen.
Es zeigt sich auch im Jahr 2021, dass die „Old Economy“, oft als altmodisch belächelt, eben noch ein paar mehr Assets auf die Waage werfen kann als ein hippes Start-up der „New Economy“, das auf den kurzfristigen Exit innerhalb von drei Jahren hinarbeitet. Diese Beständigkeit wissen auch Mitarbeiter in der Krise zu schätzen. Denn auch sie brauchen Loyalität, um wiederum Verlässlichkeit beim Bestreiten ihres Lebensunterhalts oder der Tilgung ihrer Verbindlichkeiten zu haben. Betriebswirtschaftliche Stabilität wird hier zur volkswirtschaftlich verlässlichen Größe.
Welche Werte zählen noch? Auch 2021 profitieren wir alle von Empathie, Takt und Manieren. In der digitalen Kommunikation bleibt ein Zwischenton manchmal auf der Strecke, Körpersprache geht in der Zweidimensionalität verloren. Zuhören und Ausreden lassen ist so wichtig wie nie zuvor. Und noch etwas zum Thema Zuhören: Wer auf seine Kunden, den Handel und das Handwerk, in den vergangenen Jahren gehört hat, der hat auch die Krise besser gemeistert als andere.

These 2: „Old Economy“ kann auch „New“

Die Pandemie war ein Innovationsturbo. An Rezepturen für Baustoffe oder in der Produktion hat sich wenig geändert – aber drumherum fast alles. Die Baustoffbranche hat sich immer schwer getan mit Veränderung.
Ein Beispiel ist die Arbeitsorganisation. Mobiles Arbeiten hatte es immer schwer in der Branche. Natürlich lassen sich Fliesenkleber oder Bauwerksabdichtung nicht im Homeoffice herstellen. Aber treffsicheres Marketing oder gewissenhafte Personalverwaltung sind auch außerhalb des Büros möglich. Wir werden im Jahr 2021 nicht nur mehr Freiheit für unsere Mitarbeiter gewinnen, sondern auch für uns mehr Freiheit in der Personalgewinnung. Den standortverwurzelten Mittelstand, oft familiengeführt, findet man selten in Großstädten wie Frankfurt, München, Köln oder Berlin. Folglich fällt es auch schwerer, junge Talente zu begeistern. Flexible Arbeitsmodelle, Standortunabhängigkeit und ein mobiles Umfeld können wir aber trotzdem bieten. Gelernt haben wir das allerdings erst durch zwei Lockdowns, die unsere Strukturen in Windeseile durcheinandergewirbelt haben. Hier wird sich einiges tun, wir gewöhnen uns nicht nur zwangsweise an „New Normal“ und „New Work“, sondern finden richtig Spaß daran.
Wer frühzeitig Digitalisierung vorangetrieben hat, war natürlich klar im Vorteil. SCHOMBURG hat etwa bereits 2018 die Stelle eines Chief Digital Officers geschaffen – ohne, dass man in der Branche überhaupt so genau wusste, was der eigentlich macht. Es hat sich gezeigt, dass es die richtige Entscheidung war, diese Felder zu besetzen und Digitalisierung in Organisation und Vertrieb voranzutreiben. Die App „Frag Albert“ hilft auch im Jahr 2021, den Verarbeiter vor Ort schnell mit Lösungen zu versorgen. Microsoft 365 war der richtige Weg, um Zusammenarbeit auch in dezentralen Strukturen zu ermöglichen.

These 3: Kundennähe wird am Ende durch den Kunden selbst entschieden

Auch Kundennähe stellen wir zwangsweise anders her, wir werden davon aber 2021 und darüber hinaus massiv profitieren. Wir gewinnen mit der breiten Akzeptanz von digitaler Kommunikation auf Kunden- und Herstellerseite neue Wege, die uns helfen. In Zukunft wird der Kunde entscheiden, welchen Weg er wählt. Denn letztendlich kommt es nicht auf den Vertriebs-Channel an, sondern auf die Produkte, den Service und die Qualität. Ob diese Leistung des Herstellers durch WhatsApp, das Telefon, per E-Mail oder durch den persönlichen Besuch zum Kunden kommt, ist letztendlich sekundär.
Der Videocall ersetzt manche Stippvisite des Vertriebs. Aber ganz tot, wie es Artikel in Wirtschaftsblättern wie dem Harvard Business Manager, oder der Wirtschaftswoche suggerieren, ist der klassische Vertrieb nicht. Insgesamt haben wir nun mehr Zeit für den Kunden und können auch spontaner auf Wünsche und Probleme reagieren. Meetings werden effizienter, digitale Kanäle erlauben zielgenaues Targeting von Zielgruppen. Der Kunde wählt einfach den Kanal aus, der zu ihm passt. Und ja, auch das gute alte Telefon erlebt gerade eine wahnsinnige Renaissance. Und doch muss man verstärkt auf Untertöne achten oder im internationalen Geschäft noch mehr kulturelle Feinheiten kennen. Das ist jedoch nichts, was eine gute Schulung nicht leisten kann. Auch den Kunden muss man hier ein Kompliment machen. Nicht wenige sind von der Geschwindigkeit eines Faxgerätes nahtlos auf Breitband umgestiegen – Kompliment. Eines bleibt auch 2021 wie es immer war: Neukundenakquise aus der Ferne ist zwar möglich, aber unendlich schwer.

Haben wir also von der Krise profitiert? Ja, ungemein, natürlich verbunden mit ungeheuren menschlichen Kosten einer Pandemie. Unsere Branche hat insgesamt mindestens vier Jahre Vorsprung gegenüber einer „normalen Entwicklung“ in Innovation, Change und Effizienz gewonnen. Egal wie schwer die Situation momentan ist – im Baustoffbereich haben wir als „Old Economy“ schnell zur „New Economy“ aufgeschlossen. Die Frage ist: Wie werden wir das nutzen? Meine Prognose ist, dass die Investition in neue Dienstleistungen, Markterschließung und Arbeitsorganisation für erfolgreiche Unternehmen einen mindestens ebenso großen Budgetposten bedeutet wie die Investition in Forschung und Entwicklung erstklassiger Systemlösungen. Wir paaren 2021 verlässliche Geschäftsmodelle mit Innovation und Digitalität. Wer uns aufhalten kann? Wenn der Mehrwert passt: Niemand!

| erschienen im Jahrbuch 2020-2021 von Fliesen und Platten